Chronik 2022: Verschwörungsideologische Aufmärsche im dritten Jahr der Corona-Pandemie

von Micky Caulfield, Lucia Lavay und Damian Ott

1. Einleitende Zusammenfassung

Wie in den Vorjahren auch möchten wir euch an dieser Stelle unsere Chronikauswertung vorstellen. In dieser sammeln wir extrem rechte Aktivitäten und sind dabei vor allem auf Meldungen aus der Zivilgesellschaft angewiesen. Jede Meldung wird von uns überprüft und – sofern sie verifiziert werden konnte – indexiert und einer Kategorie zugewiesen. Da die Vorfälle nur einer einzigen Kategorie zugewiesen werden, führen wir intern teilweise Einzelfall-Diskussionen, welche die treffendste Kategorie ist. Auch die Kategorien selbst stehen dabei immer wieder auf dem Prüfstand; so wurde nach einer unserer Veranstaltungen im letzten Jahr die Kritik an uns herangetragen, dass die Zusammenlegung der Vorfallsart „Frauen- und LGBTIQ-Feindlichkeit“ die strukturellen Unterschiede der beiden Diskriminierungsarten verwischen würde. Dies hat dazu geführt, dass wir uns wochen- und monatelang immer wieder darüber ausgetauscht haben. In diesem Fall sind wir zu der Entscheidung gekommen die Kategorie vorerst so zu belassen. Dies liegt auch an der Menge der gemeldeten Vorfälle, die so gering ist, dass eine Ausdifferenzierung der Vorfälle nicht von Nutzen wäre. Solltest du als unser*e Leser*in uns hier widersprechen, freuen wir uns über Feedback. Vielleicht hat ja auch jemand Lust einen kleinen Debattenbeitrag für die nächste Hingeschaut! beizutragen?!

24.09.2021 eine der ersten Mahnwachen während des Prozess wegen des Femizid an Besma am Landgericht Göttingen (Foto: Nico Kuhn)

In diesem Zusammenhang ist auch der Femizid an Besma A. zu nennen. Dieser hat uns alle sehr betroffen gemacht, die Tat an sich ist aber nicht per se als extrem rechts zu klassifizieren. Auch hier müssen wir im Einzelfall gucken von wem und mit welcher Motivation die Gewalt ausgeht. Dass der Mord an Besma A. nicht in der Chronik auftaucht, schmälert nicht unsere Trauer, unseren Beileid mit den Angehörigen und unsere Solidarität mit der kritischen Prozessbeobachtung.
Frauenhass ist wie viele antiemanzipatorische Einstellungen in der Gesellschaft weit verbreitet. Ähnlich verhält es sich mit Elementen verschwörungsideologischen Denkens, das in den letzten Jahren bekanntlich sehr virulent gewesen ist. Eine eindeutige Trennung von rechten zu nicht-rechten Akteur*innen und Einstellungen ist auch hier nicht immer zweifelsfrei möglich und vielleicht auch nicht sinnvoll. Denn wenn sich Teilnehmende eines Aufmarsches nicht von rechten TeilnehmerInnen distanzieren, lassen sich darüber auch Aussagen über gesellschaftliche Verhältnisse treffen. Begegnet ist uns dies im letzten Jahr natürlich vor allem im Kontext der (sich verändernden) Corona-Proteste. Der quantitative Anstieg der ‚rechten und rechtsoffenen Veranstaltungen‘ in Verbindung mit den Teilnehmer*innenzahlen veranschaulicht die Attraktivität von verschwörungsideologischem Denken bis weit in die „Mitte“ der Gesellschaft. Sowohl „Mitte“ als auch „rechtsoffen“ sind Begriffe die bei uns in der Diskussion sind. Auch hierzu freuen wir uns, eure Meinung zu hören.

Ein erster Überblick

Chronik Auswertung 2022

Mit 482 Eintragungen wurden im Jahr 2022 die meisten rechten und rechtsoffenen Meldungen seit Bestehen der Chronik im Jahr 2019 dokumentiert. Grund hierfür ist die breite Mobilisierung der Verschwörungsgläubigen zu Beginn des Jahres gegen die Corona-Pandemie. Zu betonen ist dabei insbesondere, dass in diesem Jahr zum ersten Mal rechte und rechtsoffene Veranstaltungen – konkret Aufmärsche und Kundgebungen – den größten Anteil der dokumentierten Vorfälle einnahmen, Zum Vergleich: In den Vorjahren war die Kategorie Propaganda am stärksten vertreten. Insgesamt wurden 238 Veranstaltungen dokumentiert, das entspricht 49,4% aller für Südniedersachsen und das thüringische Eichsfeld gemeldeten Vorfälle. Wenig überraschend stellte ‘rechte Propaganda’ mit 223 (46,3%) Eintragungen die zweitgrößte Vorfallsart dar. Auf inhaltlicher Ebene dominierte die Kategorie “Sonstiges” mit 288 Einträgen deutlich. In der Kategorie wurden in überwiegender Mehrzahl Aufmärsche und Propaganda der Corona-Leugner*innen erfasst.

Eine abschließende Einordnung der Proteste, welche maßgeblich über einschlägige Telegram-Kanäle wie den der “Freien Niedersachsen” mobilisiert wurden, fällt auch im dritten Jahr der Pandemie noch schwer. Die hier vorgenommene Auswertung knüpft nahtlos an die Überlegungen der vergangenen Jahre an. Die dazu bereits in der Hingeschaut #2 und #3 veröffentlichten Texte können ergänzend zur Lektüre herangezogen werden, da vieles, was dort geschrieben wurde, weiterhin Gültigkeit besitzt. Die neonazistische Rechte blieb auch 2022 ohne erkennbare eigene öffentliche Schwerpunkte und spielte eine geringere Rolle bei den erfassten Aktivitäten. Auch die AfD errang zwar ein – für Südniedersachsen – erschreckend hohes Wahlergebnis, dieses ist jedoch weniger auf den hier regional geführten Wahlkampf zurückzuführen, sondern vielmehr auf den bundesweiten Trend in der Partei. Sie profitierte von den Krisen, auf die die Politische Linke bisher keine überzeugenden Antworten gefunden hat.

2. Quantitative Verbreitung: Auswertung der Vorfälle und räumliche Schwerpunkte

Wie bereits erwähnt, entfiel der größte Teil der dokumentierten Vorfälle auf den Bereich der corona-leugnenden Proteste. Insgesamt dokumentierten wir 212 Veranstaltungen in der Kategorie “Sonstiges” die sich fast ausschließlich aus corona-leugnenden Aufmärschen. Diese gab es in nahezu jeder südniedersächsischen Kleinstadt.

Spitze eines corona-leugnenden Aufzug am 31.01.2022 in Herzberg am Harz. Layout des Fronttransparent stammt von der AfD. (Foto: Nico Kuhn)

Der – zumindest im ersten Halbjahr 2022 – vorherrschende Protest richtete sich, z.B. in Form von Stickern, durchaus auch gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen. So wurden unter anderem Aufkleber mit der Aufschrift: „20. März 2022 Freedom Day. Wie von der Bundesregierung versprochen: Am 20. März enden ALLE Corona-Maßnahmen. Wir nehmen euch beim Wort” verklebt. Die Begründungen, warum die Maßnahmen aufgehoben werden sollten, waren jedoch maßgeblich verschwörungsideologisch geprägt. Dies fand nicht immer seinen direkten Ausdruck auf den Kundgebungen, waren jedoch im Hintergrund stets präsent. Dafür waren auch taktische Gründe ausschlaggebend: Die Aufmärsche wurden als “Spaziergänge” getarnt, weswegen auf das Mitführen von Bannern und Plakaten – zumindest teilweise verzichtet wurde. So sollte ein möglichst breites Spektrum an Teilnehmer*innen erreicht werden. Während eine Kritik an den Grundrechtseinschränkungen durchaus seine Berechtigung hat, wähnten sich die Protestierenden weiterhin in einer „Diktatur“.
Kennzeichnend für die Aufmärsche war die Berufung auf “Selbstbestimmung”, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Veranstaltungen, die lediglich für gegen Corona-Geimpfte Personen möglich waren. Die Protestierenden sind dahingehend in ihren Forderungen “hochgradig individualistisch und gesellschaftsvergessen” (Amelinger & Nachtwey, 289). Viele der Protestierenden sind abergläubisch, destruktiv und neigen zu Aggressionen (was sich unter anderem durch die Angriffe auf Pressevertreter*innen immer wieder zeigt). Sie erkennen sie nur sich selbst bzw. ihre Gurus als alternative Autoritäten an (Amelinger & Nachtwey, 291f.).

Corona-leugnender Aufzug am 21.03.2022 in Göttingen (Foto: Nico Kuhn)

Das Fehlen einer einheitlichen politischen Agenda macht die inhaltliche Einordnung der Proteste im Zuge der Coronapandemie nach wie vor schwierig. Sofern – im Sinne unseres Kategoriensystems – eine genauere inhaltliche Klassifikation vorgenommen werden konnte, haben wir dies getan. Konkrete Gleichsetzungen der staatlichen Corona-Politik mit dem Nationalsozialismus, die Markierung von politischen Feinden (unter der Bezeichnung Anti-Antifa subsumiert) sowie antisemitische Chiffren wurden in den entsprechenden Kategorien erfasst. Exemplarisch hierfür steht hier die Schmiererei “2G=Hakenkreuz”. In Göttingen nahm vor allem die Feindmarkierung von Antifaschist*innen einen größeren Raum ein. Gängige Aufklebermotive stellten dabei Antifaschist*innen als der Pharmaindustrie (“Phizer”) oder einem diffusen Konglomerat verschiedener Verschwörungserzählungen hörig dar.
Ein weiterer – wenn auch wesentlicher kleinerer – Schwerpunkt stellte im Wahlkampfjahr 2022 rechte Selbstdarstellung in Form von Aufklebern und Flyern dar. Insbesondere warben diese für die Alternative für Deutschland (AfD) und die Querdenken-Partei “die Basis”. Beide Parteien konnten ihre Kundgebungen und Infostände weitgehend ungestört durchführen. Größere Gegenproteste und inhaltliche Kampagnen gegen das braune Wahlkampftreiben fehlten völlig. Ungeachtet dessen verlief der Wahlkampf der beiden Parteien unspektakulär. Der AfD Kreisverband Göttingen blieb seiner desaströsen Linie treu und beteiligte sich erst gar nicht öffentlichkeitswirksam, führte aber mehrere Infostände im Altkreis Osterode durch. Der AfD-Kreisverband Northeim war – wie in den vergangenen Jahren auch – aktiver. Schlussendlich wurden die Infostände aber lediglich um den gleichen kleinen Aktivenkreis rund um den Kreisvorsitzenden Maik Schmitz getragen. Neben Northeim wurden Infostände in Uslar und Einbeck durchgeführt. Die Basis war im Landkreis Göttingen aktiver, unter anderem führten sie in Göttingen Wahlkampfstände durch. Insgesamt wurden 48 Einträge (10%) in der Kategorie rechter Selbstdarstellung erfasst. Darunter vielen 21 Veranstaltungen und 28 Propaganda-Einträge. Letztere entfielen zu einem großen Teil auf das Identitäre Projekt “Gegenuni”, für welches in Göttingen Aufkleber verklebt wurden.

Auch im Jahr 2022 kam zu rassistischen, antisemitischen und anti-linken Angriffen. So erhielten sowohl die Göttinger Ditib Moschee und die liberale jüdische Gemeinde neonazistische Drohschreiben. Das Schreiben an die islamische Gemeinde war mit dem Kürzel NSU 2.0 unterzeichnet worden.
Auch linke Hausprojekte waren wieder Ziel von Sachbeschädigungen. Bei dem schwersten Angriff wurden die Radmuttern eines parkenden Autos gelöst, was die fahrende Person erst auf der Autobahn bemerkte. Bereits in den Tagen zuvor warfen Unbekannte Flaschen auf sich im Garten des gleichen Hausprojekts aufhaltende Personen. Auch in Greene in kam es zu einem körperlichen Angriff auf Antifaschist*innen. Hier nahmen örtliche Anhänger eines rechten Siedlungsprojekts diese in den Schwitzkasten bedrohten sie.

3. Die Corona-Proteste im Jahr 2022: Spazieren gegen die Realität

Es war – wie schon in den beiden Vorjahren – nicht die extreme Rechte, die das Protestgeschehen dominierte. Waren im ersten Halbjahr noch kontaktbeschränkende Maßnahmen in Kraft, die einen konkreten Mobilisierungsanlass boten, trat die Pandemiepolitik im zweiten Halbjahr vollkommen in den Hintergrund. Vielmehr standen (und stehen) jetzt Allgemeinplätze, wie “Frieden, Freiheit und Souveränität” im Zentrum.

Mobilisierungspotentiale und AkteurInnen in Göttingen

Während die unangemeldeten, losen Versammlungen rund um den Jahreswechsel 2021 / 2022 mit nur bis zu 60 Teilnehmenden stationär vor dem neuen Rathaus blieben, war es ab Ende Januar nach offizieller Anmeldung zu längeren Aufmärschen durch verschiedene Teile Göttingens gekommen. Die Anzahl der Teilnehmenden stieg sprunghaft an, in der Spitze beteiligten sich bis zu 150 Personen. Ab diesem Zeitpunkt lies sich auch eine organisatorische Anführung der Versammlungen durch den örtlichen Ableger der bundesweit agierenden Struktur „Studenten stehen auf“ feststellen. Die Organisation, die sich selbst als „dezentrales Netzwerk“ beschreibt, verbreitet unter dem Label angeblicher „Wissenschaftsfreiheit“ verschwörungsideologische Inhalte. Zudem setzten sich die dort organisierten Studierenden für den Wegfall aller Covid-Schutzmaßnahmen im universitären Kontext ein, da diese „diskriminierend“ seien.

Giulio Hager spricht auf einer corona-leugnenden Versammlung am 04.04.2022 in Göttingen (Foto: Nico Kuhn)

Ab April 2022 kam es mit dem Wegzug des bisherigen Anmelders Giulio Hager aus dem Umfeld von „Studenten stehen auf“ zu einem vorübergehenden Zusammenbruch des Göttinger Aufmarschgeschehens. Im Spätsommer kündigten Einzelpersonen, die bereits seit 2020 an Aufmärschen der Szene teilnahmen, allerdings weder der „Basis“ noch den „Studenten stehen auf!“ zuzurechnen sind, dann großspurig ein Aufleben der Aufmärsche unter dem Slogan „endlich wieder!“ an. Nach einem kleinen, anfänglichen Erfolg mit bis zu 40 Personen auf einem montäglichen Aufmarsch, fanden sich bald nur noch eine kleine zweistellige Zahl von Personen ein. Das diese Aufmärsche keinerlei Mobilisierungspotential entfalteten und sich im Verlauf auch vermehrt abschotteten, ist vermutlich auf das Fehlen einer geeigneten Führungsperson, wie Hager sie darstellte, zurückzuführen. Das sich in dem Milieu der Verschwörungsideologien und Reichsbürgern durchaus eine mobilisierungsfähige Basis gebildet hatte, zeigte eine Veranstaltung im Januar 2023, wo sich unter der Führung von Edgar Schuh (ex Die Linke) und Beate Kühnhold (die Basis) erneut bis zu 80 Personen mobilisieren ließen. Thematisch ging es hierbei allerdings vordergründig nicht um die Corona Politik, sondern vermehrt um verschwörungsideologisch aufgeladene Positionen zum anhaltenden Ukraine Krieg.

Feindbild Grüne: Die Corona-Leugner*innen im Wahlkampf

Proteste gegen den Auftritt von Annalena Baerbock am 02.10.2022 in Göttingen (Foto: Nico Kuhn)

Bereits in der zweiten Jahreshälfte 2022 ist diese inhaltliche Verschiebung von Corona zum anhaltenden Ukrainekrieg zu bemerken. Deutlich wurde das beispielsweise an den Störungen des Wahlkampfs der Grünen anlässlich der Landtagswahl. In verschiedenen Telegram-Kanälen wurde dazu aufgerufen nach Göttingen zu kommen. In diesem Zusammenhang lassen sich verschiedene antifreiheitliche Topoi feststellen. Die Partei “Die Grünen” wird als Anheizerin des Ukrainekrieges betrachtet, was sich beispielsweise an Parolen wie “Grüne=Kriegstreiber” auf einem Plakat bei der Wahlkampfstöraktion am 23. September zeigt. Die Grünen stehen sinnbildlich für den gesellschaftlichen Widerspruch Frieden ebenso zu fordern wie Waffenlieferungen an die Ukraine, den die Protestierenden einseitig zu Gunsten Russlands auflösen. Auch für Verteuerungen im Alltag wird die Partei verantwortlich gemacht, so sei das Abschalten von Kohle- und Atomkraftwerken fahrlässig für die Gewährleistung der deutschen Energiesicherheit. Das Feindbild „Grüne“ wird dabei auch konstruiert, indem Vertreter*innen der Partei ihre Kompetenz abgesprochen wird. So hieß es auf einem Plakat bei der Wahlkampfveranstaltung von Ricarda Lang am 24. September in Göttingen: “Keinen Berufsabschluss in der Tasche aber uns erzählen wollen wie wir Steuerzahler zu leben haben. Pfui!” Zu dieser Grünen-Verteufelung passt auch, dass in sozialen Medien die Pädophilie-Debatte der 80er-Jahre wieder aufgegriffen und Grüne pauschal als Kinderschänder diffamiert wurden.Negativer Höhepunkt war ein Drohbrief der am 27. September im Parteibüro der Grünen einging. Darin heißt es: “Die Grünen stürzen Deutschland in den Abgrund. Öffnen Nordstream und macht die AKWs wieder an! Oder wir killen euch!“ Unterschrieben war diese Morddrohung mit „HH“ (Heil Hitler), „White Power“ und einem Hakenkreuz. Verantwortlich für den Drohbrief zeichnete sich eine ominöse Gruppe 11.

ReichsbürgerInnen in Heiligenstadt

Reichsbürger Daniel H. spricht auf einer Versammlung am 15.11.2021 in Teistungen (Foto: Nico Kuhn)

Im thüringischem Eichsfeld konzentrierte sich das Protestgeschehen insbesondere auf die Kleinstädte Leinefelde und Heilbad Heiligenstadt. Hier wurden auch in der zweiten Jahreshälfte hohe TeilnehmerInnenzahlen erreicht. Die Einordnung der Proteste fällt hier noch schwerer als in Südniedersachsen, da es weder Gegenprotest noch eine journalistische Dokumentation gab. Dadurch muss sich die Analyse überwiegend auf die Selbstdarstellung der AkteurInnen stützen. Wenigstens für Heiligenstadt lassen sich einige begrenzte Aussagen treffen.
Bei den OrganisatorInnen der Aufmärsche in Heiligenstadt handelt es sich um eine Gruppe von ReichsbürgerInnen rund um den Tanzlehrer Daniel H. und den städtischen Friedhofsgärtner Thomas H. Auf eindeutige politische Symbolik wurde auf den Aufmärschen im Jahr 2022 weitgehend verzichtet. Das lässt sich jedoch für die im obligatorischen Telegramkanal geteilten Artikel oder die vorgetragenen Redebeiträge nicht behaupten. Um die politische Verortung zu umreißen, sei an dieser Stelle auf eine Rede von Thomas H. verwiesen, die er am 10. Oktober 2022 gehalten hat. Nicht nur werden die Corona-Maßnahmen von ihm in NS-relativierender Manier als “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” bezeichnet sondern attackiert auch verbal die Kommunalverwaltung von Heiligenstadt: Er fordert die anwesenden “Gemeindemitglieder” auf in “der Verwaltung aufzuräumen”. Anschließend fordert er: “Lasst uns gemeinsam von ganz unten wieder Strukturen im gültigen Recht schaffen, das beginnt beim Bürgermeister.” H. empfahl abschließend die beiden Pamphlete “Das deutsche Reich 1871 bis heute” von Matthes Haug und “Die BRD-GMBH” von Klaus Maurer, in denen “alles beschrieben” sei. Um die Proteste besser einordnen zu können, soll im folgenden kurz auf diese beiden Texte eingegangen werden.
“BRD” steht nach Maurer für “Besatzungsregime in Deutschland” (S. 4). Dabei handle es sich “um eine Kolonialverwaltung der Besatzer”, die “gegen die Interessen der Deutschen gerichtet” sei (S. 4). Assoziativ werden in dem Text verschiedene juristische, historische und politische Aspekte vermengt, um die Ungültigkeit der Bundesrepublik zu “belegen”. Ohne Solidaritätserklärung für den Holocaustleugner und Neonazi Horst Mahler und des dazugehörenden Antisemitismus kommt der Text nicht aus. Im Maurers Werk gäbe auch Hinweise auf Möglichkeiten zum “Widerstand”, wie H. seinem Publikum mit auf den Weg gibt. Maurer schreibt u.a. folgendes: “Gegenwärtig befinden wir uns in einer Situation, in der jeder Deutsche nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, die Beseitigung des “BRD”-Systems mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln [z.B. Steuer- und Schulboykott] voranzutreiben.” (S. 276). Außerdem enthält der Text Formulierungsvorschläge, wie Behörden mithilfe von Briefverkehr („bitte ausschließlich in Frakturschrift schreiben!“) lahmgelegt werden sollen.

Thomas H. (links) an einem ‘Reichsbürger’ Banner bei einem corona-leugnenden Aufzug am 14.09.2020 in Heiligenstadt (Foto: Nico Kuhn)

Der zweite, von Thomas H. empfohlene Autor, Matthes Haug, skizziert am Ende seines Buches seine Staatsvorstellung folgendermaßen: Von einem Parteiensystem sei dringend abzuraten, eine “ganzheitlich ausgerichtete Weltanschauung“, „Familie und Individuum als Keimzelle des Volkes sowie Naturgesetze als Maßstab für Exekutive und Judikative“ sollten Grundlage des neuen Staates werden. VerfechterInnen des Nationalsozialismus würden dem wohl unumwunden zustimmen. Presseberichten zufolge wurden Haugs Privaträume im Rahmen der bundesweiten Razzien gegen die Reichsbürgerszene im Dezember 2022 durchsucht.
Zurück nach Heiligenstadt: Es ist bedenklich, dass regelmäßig mehrere hundert Menschen diesen OrganisatorInnen zujubeln und sie Woche für Woche unterstützen. Innerhalb der Heiligenstädter Stadtgesellschaft haben solche Thesen unseres Wissens nach bisher keinen Skandal dargestellt. Dass diese Proteste von Demokratiefeinden organisiert werden konnte schon lange klar sein: Thomas H. und Daniel H. waren bereits in den vorangegangen Jahren an den Kundgebungen am ehemaligen innerdeutschen Grenzübergang in Teistungen sowie an weiteren Reichsbürgeraufmärschen in Heiligenstadt organisatorisch beteiligt. Dort wurde auch mit politischer Symbolik nicht gespart: Schwarz-weiß-rote Fahnen dominierten hier das Bild.

Angriffe auf Pressevertreter*innen

Die Reste eines Blitzes, welcher am 03.10.2022 in Heiligenstadt bei Dokumentation eines corona-leugnenden Aufzugs von einer Kamera gerissen wurde (Foto: Nico Kuhn)

Ein Kontinuität im Rahmen der verschwörungsideologischen Aufmärsche stellten Angriffe auf Pressevertreter*innen dar. Diese fanden in der Regel in den Kleinstädten statt. Das Bepöbeln, Beleidigen, aber auch körperliche Attacken gehörten zum Alltag von Journalist*innen. Der schwerste Angriff ereignete sich dabei in Heilbad Heiligenstadt, wo zwei Pressevertreter sowie ihre Begleitung tätlich angegriffen und Teile der Fotoausrüstung zerstört wurden. Die Übergriffe wurden von den anderen TeilnehmerInnen bejubelt und im Nachhinein sowohl von den OrganisatorInnen, als auch dem ebenfalls anwesenden Neonazi Jens Wilke süffisant kommentiert. Wilke tauchte auch bei weiteren Aufmärschen auf, war aber bis auf eine Ausnahme – nämlich in Groß Schneen – nicht erkennbar organisatorisch tätig. In Groß Schneen gab er zusammen mit dem Einbecker Neonazi Tobias Haupt am 17. Januar 2022 die Richtung des Aufmarschs durch. Die Rolle Wilkes wirkte mobilisierend für den Gegenprotest und abschreckend auf die TeilnehmerInnen, sodass ein weiterer Aufmarschversuch in dem Ortsteil Friedlands bereits in der Folgewoche floppte.

Die extreme Rechte am Volkstrauertag

Auch 2022 wurden zu den gleichen Anlässen wie in den vergangenen Jahren geschichtspolitische Veranstaltungen durchgeführt. Insbesondere die AfD organisierte anlässlich des Volkstrauertags Kranzniederlegungen an den lokalen Kriegsdenkmälern in Heiligenstadt, Northeim und Herzberg. Die Veranstaltungen wurden nicht öffentlich beworben und im Nachgang Fotos in den sozialen Netzwerken geteilt. Björn Höcke durchschritt in Heiligenstadt ein militärisch anmutendes Ehrenspalier, das unter anderem von Philippe Navarre und Louisa B. gestellt wurde. Navarre war Teil des Vorstands der Jungen Alternative Niedersachsen, bevor dieser aufgrund der Beobachtung durch den niedersächsischen Verfassungsschutz aufgelöst wurde. Im Anschluss daran wandte er sich auch offen dem Neonazismus zu und wurde von Autonomen Antifaschist*innen der sogenannten Göttinger Naziclique zugeordnet, die nachweislich über enge Kontakte zu Thorsten Heise verfügte. Navarre selbst nahm als Helfer an von Heise organisierten Rechtsrockfestivals teil. Auch in Niedersachsen war das Gedenken durchaus interessant. So legten VertreterInnen des rechten Flügels der AfD aus den Kreisverbänden Göttingen und Northeim gemeinsam einen Kranz am Herzberger Kriegerdenkmal nieder. Anwesend waren unter anderem Maik Schmitz und Philipp Göthel. Eine weitere geschichtspolitische Konstante stellten die Kundgebungen in Friedland dar. Siehe dazu den Text, der ebenfalls in der Hingeschaut erscheinen wird.

Literaturverweis:
Carolin Amelinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022.