Moritz Jahn – Der Göttinger Dichter nach 1945 unbehelligt

Von Stefan Walfort

Zum 100. Geburtstag des Göttinger Dichters Moritz Jahn wurde 1984 in Geismar feierlich das Moritz- Jahn-Haus eröffnet, fortan „als kultureller Mittelpunkt“ gedacht, wie das Göttinger Tageblatt (GT) berichtete. Monate später waren erstmals kritische Töne zu vernehmen. Jahn, der in der NS-Zeit als Lehrer und Leiter der Volksschule in Geismar gearbeitet hatte, war seit fünf Jahren verstorben. Zu Lebzeiten beeinflusste er stark die Wahrnehmung seiner Vita. In einer Augen- zeugenbefragung des Oberstudienrats Ulrich Popplow von 1976 inszenierte Jahn sich als widerständig: „Hitler hat einmal auf dem KWP [Kaiser-Wilhelm-Park, Anm. S.W.] gesprochen. Aber ich war nicht da, bewußt nicht. Ich mochte Hitlers Gesicht nicht und seine Haarlocke. Ich mochte auch seine Rundfunkreden nicht.“ Mit Antisemitismus habe Jahn schon gar nichts zu tun gehabt. Einige seiner Werke sprechen aber eine andere Sprache, und noch im gleichen Gespräch äußerte sich Jahn gegenüber dem Berufskollegen neuerlich antisemitisch. Auf 14 Seiten protokollierte Popplow das Gespräch. Im Göttinger Stadtarchiv ist es einsehbar. Auch befindet sich dort eine 137 Schriftstücke um- fassende Akte. Formulare zur Verleihung einer Ehrenbürgerschaft, über die Jahn sich 1964 freuen durfte, lassen sich begutachten. Gästelisten zu runden Geburtstagen Jahns geraten einem in die Hände, Schreiben des Kulturamts an den Oberstadtdirektor, man möge Jahn „6 Flaschen guten Rotwein“ schenken, und vieles mehr. Jahn blieb als Würdenträger vorerst unhinterfragt. Widersprechende Stimmen sind bis in die Gegenwart spärlich geblieben. Mittlerweile ist Jahn ein Unbekannter, doch am Geismar Thie 1 steht noch immer das nach ihm benannte Gebäude. Die Stadt Göttingen brachte 2015 Geflüchtete darin unter, ohne über eine Umbenennung nachzudenken. Doch wer war dieser Namenspatron? Worüber schrieb er? Wie drückte er seine politischen Positionen aus?

Das Moritz-Jahn-Haus in Göttingen
Das Moritz-Jahn-Haus in Göttingen.
Foto: Julia Wessner.

Zwischen Stereotype aus alter Tradition

„[W]o war der Gott, wenn nicht in ihm, und was war sein Wille, wenn nicht die Mannessatzung von überall: Sei tapfer und rein – ?! Es schien nicht, als ob sie aufgeschrieben stand in den Runen der Judäer. D a r u m waren sie der Römer Knechte.“ Die hier vermittelten Gedanken stammen aus einer Erzählung Jahns, erschienen 1931 im Schütting, einer damals jährlich erscheinenden Textsammlung für LiebhaberInnen sogenannter Heimatkunst. Die Erzählung trägt den Titel Die Rune. Sie ist durchweg antisemitisch. Es handelt sich um eine sehr „eigenwillige Gestaltung der Weihnachtsgeschichte“, wie Peter Wagener in einem Forschungsbeitrag anmerkte, in dem er 1984 als einer der Ersten Jahns Werke problematisierte, antisemitische, antimoderne und rassistische Konzepte nachwies. Im Mittelpunkt der Rune steht als Hauptfigur ein germanischer Reiter namens Frodger. Im Stall seines Pferdes suchen Maria,  Joseph und das Christuskind Zuflucht. Frodger segnet den Säugling mit einer Speerspitze, in das er einst eine „Sonnenrune mit den vier Speichen“ eingeritzt hatte – eine Urform des Hakenkreuzes. Es verschmelzen das Christen- und Germanentum zu einem Bündnis. Mit ihm treibt die Erzählung ihre antisemitische Grundtendenz buchstäblich auf die Spitze.

Eingeführt wird das Ganze mit der Ankunft Frodgers in Bethlehem. Ein Erzähler gibt Werturteile von sich, erzeugt damit einen Kontrast zwischen Frodger und Judäern: Er erscheint als Lichtgestalt, sie kommen nur als Betrüger vor, die minderwertige Ware feilbieten, und als Wurzellose, die „in mannigfachen Sprachen“ zuhause seien. Frodger verspottet sie, wirft ihnen Scheu vor, sich im Kampf zu behaupten, wertet sie als unmännlich ab. Römer, „zuverlässige Leute von guter soldatischer Haltung“, kommentieren zusätzlich das Geschehen, stützen das Gut- versus-Böse-Schema: „Sieh, drüben hocken sie schon wieder zusammen und murmeln Zaubersprüche.“ Der Autor dahinter ließ kaum ein Stereotyp aus jahrhundertealter judenfeindlicher Tradition aus. So positionierte er sich innerhalb der Diskurse seiner Zeit als einverstanden mit der Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden und als bereit, daran mitzuwirken. Die Rune ist ein eindrücklicher Beleg dafür. In einer dreibändigen Ausgabe Gesammelter Werke Jahns, herausgegeben 1963/64 von Hermann Blome, fehlt dieser Text. Laut Wagener ist die Ausgabe mit Vorsicht zu untersuchen: Besonders belastende Texte seien generell nicht aufgenommen, Anleihen an NS-Ideologie in anderen Texten umgeschrieben worden. Jahn selbst war daran beteiligt.

Anhänger der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP)

Zu den Lücken in der Ausgabe gehören auch Gedichte aus einer Feldpostreihe „zum 50. Geburtstag des Führers“ (1939). Auch sie gehört zum Bestand des Stadtarchivs. Ausschließlich Gedichte Jahns sind darin enthalten – „des Freien, dessen helles, gläubiges Ja stärker ist als der ganze Chor widerbellender Verneiner“, so tönt es im Nachwort des Herausgebers Johann Frerking. Mit „Verneiner[n]“ sind speziell diejenigen Gegner*innen des Nationalsozialismus gemeint, die Jahn in dem ersten Gedicht der Feldpostreihe als Sympathisant*innen der Novemberrevolution einordnete. Es trägt den Titel Das Lied von Tausenden (November 1918). In einer ersten Strophe heißt es über die Revolution, sie werde gesteuert durch „Schurken“, getragen durch „Narren“, und weiter: „feige Nacken beugen sich zahm“. Dann, in der zweiten Strophe, mündet eine düstere Zeitdiagnose in einen kriegsverherrlichenden Appell: „Lippen rufen den Führer im Land / Augen spähen, heiß und verwacht / Ohren lauschen in schlaflose Nacht: / Flagge, wann rauschst Du uns vor / in die schwerste Schlacht?“

Es war sein Lebensthema: Schon im Göttinger Musenalmanach von 1923, mit dem der Herausgeber, Börries von Münchhausen, Jahns Karriere beflügelte, verarbeitete Jahn eine „heiße Scham“ über die „[d]ie rohe Mordhand bruellender Proleten“, die „den stolzen Kaisertraum zu Scherben schlug“. Rückblickend meinte Jahn 1976: „Ich war politisch sehr interessiert, war von einer Notwendigkeit der Umwälzung aller Weimarer Verhältnisse überzeugt. […] Die Revolution von 1918 hat mir durchaus nicht gefallen. Vor allem weil ich selbst erlebte, daß von den Parteien das Prinzip der Demokratie nicht eingehalten wurde. Wenn bürgerliche Parteien eine Versammlung abhalten wollten, haben Angehörige der Linken den Saal besetzt und durch Skandalszenen eine Debatte unmöglich gemacht.“ Wen genau er mit „bürgerliche[n] Parteien“ meinte, offenbarte er sogleich: Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Deren Treffen habe er gelegentlich besucht und sie gewählt. Sie lässt sich mit der Soziologin und Publizistin Jutta Ditfurth als Sammelbecken für Adlige mit antimoderner und antisemitischer Gesinnung beschreiben. Angehörige Ditfurths bewegten sich in diesen Kreisen, darunter ihr Urgroßonkel Münchhausen, Jahns Förderer. So harmlos, wie Jahn über das Milieu sprach, war es keineswegs.

Auch Jahns Hiebe gegen die Novemberrevolution sind nicht zu unterschätzen: Immerhin sahen sich Beteiligte sowie Sympathisant*innen in der NS-Zeit systematischer Verfolgung ausgesetzt. Ob man Jahn eine moralische Mitschuld zusprechen kann, weil er dergleichen ideell mit vorbereiten half? Zeitgenoss*innen stellten sich solche Fragen erst gar nicht. Und Jahn selbst zeigte sich gegenüber Popplow in puncto NS-Opfer unberührt. Deren Leid rechnete er gegen vermeintliches Unrecht von 1918 auf. Noch immer hing er, wohlgemerkt im Jahr ‘76, dem alten Gedankengut an.

AWidersprüchliche Aussagen, haltlose Behauptungen

Zudem verhedderte sich Jahn in Widersprüchen. Von lokalen NS-Funktionären habe er nie etwas gehört. Zugleich bestand er darauf, „sehr informiert“ gewesen zu sein. Wie er kurz darauf einräumte, habe er zumindest zu einem „Ortsgruppenleiter aus Geismar“ Kontakt gehabt; verharmlosend fügte er hinzu: Der „erzählte mir einmal ganz stolz, er sei bei einer Bücherverbrennung dabeigewesen. Diesen Mann nahm ich nicht für voll, er trank sehr gerne“. Im Weiteren hieß es über die örtliche „Parteiführung“, sie sei „im allgemeinen ganz vernünftig gewesen […] aber nicht sehr intelligent.“ Es folgen Schmähungen gegen „alles Sozialdemokratische“, begründet mit einer Anekdote: Er habe „als kleiner Junge“ mit ansehen müssen, wie jemand zum Gewerkschaftsbeitritt genötigt worden sei. Dass im Mai 1933 die NSDAP sämtliche Gewerkschaften unter Gewalteinsatz zerschlug, verschwieg Jahn. Auf entlassene Kolleg*innen aus der Schule und etwaige Solidarität angesprochen, entgegnete er entpersonalisiert: „Ich glaube, man hat es nicht weiter zur Kenntnis genommen. Man sah es als Schicksal an. Nach dem Krieg sind sie aber wieder eingestellt worden.“ Er selbst jedenfalls habe an keinem Unrecht mitgewirkt.

Nach 1945 konnte Jahn auf ein Umfeld zählen, das nicht genau hinsah. Es zählten einzig seine Verdienste um die niederdeutsche Dichtung. Interpretatoren seiner Werke und Laudatoren hatten selbst etwas zu verbergen. Friedrich Neumann zum Beispiel, 1933 Rektor der Göttinger Universität und Bücherverbrennungsredner, hatte maßgeblich die Gleichschaltung des Universitätsbetriebs vorangetrieben. Andere blieben als FreundInnen loyal und die Lokalpresse ließ sie allesamt unbehelligt. Über feierliche Anlässe oder Lesungen schrieb man entweder mit Wertschätzung oder in nüchternem Berichtsstil. Dabei fiel neben Münchhausens auch oft der Name Agnes Miegel. Die Hitler-Verehrerin war während der NS-Zeit und danach eine Freundin Jahns gewesen. Beim GT und andernorts sah in den 1960er und 1970er selbst betreffs dieser beiden noch niemand sich zu Einwürfen veranlasst. Sogar ein fortdauerndes Engagement Jahns bei rechtsradikalen Veranstaltungen blieb unbeleuchtet.

Umso enthusiastischer rühmte der Neonazi Hans-Michael Fiedler Jahn für seine „Größe“. Während der 1960er Jahre beklagte Fiedler in mehreren Artikeln der Zeitschrift Missus, flankiert von abwertendem und teils antisemitischem Vokabular, dass „Dekadenz“ den Literaturbetrieb beherrsche. Als positive Gegenbeispiele empfahl er „so namhafte Dichter wie Agnes Miegel, Lulu v. Strauß und Torney und Moritz Jahn“ und nicht zuletzt Münchhausen, den „ritterlichen“ und „männlichen“ Übervater. Fiedler hob Jahn zudem als „tiefsinnige[n]“ Teilnehmer bei den Lippoldsberger Dichtertagen hervor. Diese beschreibt der Politikwissenschaftler Gideon Botsch als Zusammenkünfte „radikalnationalistischer und antisemitischer Schriftsteller“. Während der NS-Zeit fanden sie im Jahresrhythmus statt, 1949 erfolgte eine „Neubelebung“ mit zirka 5.000 Anwesenden, jeweils „auf einem aufgelassenen Klosterhof im Dorf Lippoldsberg (Oberweser), dem Privatbesitz von Hans Grimm“. Ihn, den Gastgeber, Verfasser des für die NS-Propaganda stichwortgebenden Romans Volk ohne Raum, identifiziert Botsch eindeutig als „Antisemit und NS-Apologet“. Auch diesbezüglich gab sich Jahn 1976 uneinsichtig: Er „gehe da auch weiterhin hin“, und überhaupt sei Kritik daran nur Unwissenheit geschuldet. Grimm sei nämlich ein „Gegner des NS-Regimes“ gewesen. Wie genau Jahn darauf kam, führte er nicht weiter aus. Vermutlich spielte er auf Unstimmigkeiten zwischen Grimm und einigen NS-Funktionären rund um Goebbels an. Offensichtlich jedoch ist, dass Jahn seine Nähe zum Rechtsradikalismus beharrlich zu beschönigen suchte.

Den zitierten Aufsatz von Peter Wagener findet ihr im Sammelband Studien zu Moritz Jahn aus dem Jahr 1984.

Nach Redaktionsschluss im Frühjahr 2021 haben wir vom Tod Stefan Walforts erfahren. Uns macht diese Nachricht traurig. Wir haben ihn als engagierten Zeitgenossen kennengelernt. Er überlegte für seine Promotion im ABAG zu recherchieren. Dass er seine Pläne nun nicht mehr umsetzen kann, betrübt uns sehr.