Vom Täter zum Opfer – auf der Anklagebank

Ein Bericht über Neonazigewalt vor Gericht

Mira Sommer

Artikel aus April 2022

Transparent zur Aufklärung über den Prozess vor dem Landgericht Mühlhausen | Foto: Nico Kuhn

Im September 2021 begannen gleich zwei Prozesse, die aufgrund von Neonaziangriffen auf Antifaschist*innen geführt werden. Während sich der Fretterode-Prozess gegen den Sohn von Thorsten Heise und dessen politischen Ziehsohn, Gianluca Bruno, richtet und vor dem Landesgericht in Mühlhausen stattfindet, wurden beim Sonderbar-Prozess zwei vormals in Göttingen wohnende Neonazis, Felix Leonhard H. und Robert K. vor dem Amtsgericht Göttingen verurteilt, wogegen jedoch von beiden Seiten Berufung eingelegt wurde. In beiden Fällen lautet die Anklage gefährliche Körperverletzung, beim Fretterode-Prozess zudem schwerer Raub, die Nebenklagevertreter forderten eingangs, die Tat auch als versuchten Totschlag anzuklagen.

Verteidigungsstrategie: Täter-Opfer-Umkehr

Bei einem Vergleich der beiden Prozesse fällt auf, dass sich die Verteidigungsstrategie in beiden Fällen ähnelt. Die Verteidigung versucht, die Neonazis als die eigentlichen Opfer darzustellen, die von „der Antifa“ provoziert wurden. Vor Gericht versuchten sie zu vermitteln, dass der Tat „Diffamierungen“ durch die Antifa vorausgegangen seien.

So führte Nordulf H. in einer durch seinen Verteidiger verlesene Erklärung beispielsweise aus, dass jener Tag im April 2018 ein Sonntag wie jeder andere gewesen sei und er gerade zum Familienessen aufbrechen wollte, als er das Auto der Journalisten vor der Einfahrt des Anwesens der Familie Heise entdeckt hätte. Zuvor habe sich Nordulf H. noch von seinem Kumpel verabschiedet, mit dem er am Vorabend gefeiert hätte.

„Die Antifa“ versucht er als bundesweit agierende Terrororganisation darzustellen und zu den eigentlichen Tätern zu erklären. Von Seiten der Verteidiger wird außerdem versucht, den beiden Angeklagten ihre journalistische Tätigkeit abzusprechen. Im Falle von Nordulf H. hätte die ständige Diffamierung durch „die Antifa“ dazu geführt, dass sich einfach viel angestaut habe und er sich nicht mehr zurückhalten haben könnte. Während der Verlesung dieser Aussage verließen die Betroffenen demonstrativ den Gerichtssaal.

Im Prozess gegen Felix Leonhard H. und Robert K. verfolgte die Verteidigung eine ähnliche Strategie, indem sie in klassischer Manier der Täter-Opfer-Umkehr eine Verschwörungserzählung gegen ihre Mandanten ersannen; „die Göttinger Antifa“ habe sich über das Internet von der Anwesenheit H.s und K.s in der Stadt ausgetauscht und nur darauf gewartet, sie angreifen zu können. Tatsächlich soll es genau andersherum gewesen sein: Die Clique um die Angeklagten sei gezielt in die vermeintlich linke Bar (kurz: S-Bar) gegangen, um die Konfrontation zu suchen.

Eine fragwürdige Personalie

Besonders spannend wurde es für Prozessbeobachter*innen des S-Bar-Prozesses, als die Verteidigung am vorletzten Prozesstag kurzfristig einen Entlastungszeugen vorladen ließ. Endlich fiel dem Angeklagten Robert K. ein, dass ein Bekannter von ihm ebenfalls in der Tatnacht anwesend war: Am letzten Prozesstag trat Aaron A. das erste Mal als Zeuge auf, nachdem der Angeklagte K. zunächst den Namen seines guten Bekannten recherchieren musste. A. versuchte dem Gericht mitzuteilen, dass Robert K. sich zusammen mit ihm draußen aufgehalten hätte, nachdem sie sich zufällig in der Stadt getroffen hätten. Seine enormen Wissenslücken trugen allerdings kaum zu seiner Glaubwürdigkeit bei. So versuchte er K. zu entlasten, indem er erzählte, sie hätten zusammen geraucht. Da er sich aber kurz darauf zum Urinieren entfernt hätte, konnte er nicht versichern, dass Robert K. nicht in der Zwischenzeit die Sonderbar betreten und gemeinsam mit Felix H. die Körperverletzung begangen hatte.

Aaron A. ist außerdem der oben erwähnte Kumpel von Nordulf H. und war auch im Fretterode-Prozess als Entlastungszeuge geladen. Dort gab A. an, den Angeklagten Bruno nicht zu kennen, war aber kurz vor seiner polizeilichen Vernehmung mit Familie Heise und Bruno im Urlaub. Auch hatte er zusammen mit Nordulf H. das „Schild und Schwert“-Festival besucht und war dort organisatorisch tätig. A. versuchte zudem glaubhaft zu machen, dass er am Vormittag bereits das Haus der Familie Heise verlassen habe, während ihn Bilder der Journalisten noch um 13:12 Uhr dort zeigen. Dies war Teil der Verteidigungsstrategie der Neonazianwälte, die damit belegen wollten, dass die Bilder der Fotografen manipuliert seien. Manipuliert waren allerdings wohl nur die Aussagen des Zeugen A. Der Staatsanwalt im S-Bar-Prozess hat angekündigt, deswegen Anzeige zu erstatten.

Inzwischen wurde vor Gericht durch ein Fachgutachten festgestellt, dass besagte Fotos nicht manipuliert gewesen sein können, sodass der Zeuge A. sehr wahrscheinlich erneut durch eine Falschaussage vor Gericht auffallen könnte.

Die Verteidiger

Es lohnt sich auch ein Blick auf die Verteidiger der Angeklagten. Im Fretterode-Prozess werden Nordulf H. und Gianluca Bruno. durch Wolfram Nahrath und Klaus Kunze vertreten. Nahrath selbst war bis zum Verbot der Wiking-Jugend 1994 ihr Vorsitzender, ist für die Heimattreue Deutsche Jugend tätig gewesen und ist Mitglied der NPD.

Er hat unter anderem schon Ralf Wohlleben im NSU-Prozess vertreten, aber auch die Holocaust-Leugnerin Haverbeck zählt zu seiner Klientel. Auch Klaus Kunze ist in der Neonaziszene nicht unbekannt. Der Szeneanwalt war unter anderem Mitglied der Partei Die Republikaner und der Burschenschaft Germania zu Köln. Zudem war er Rechtsbeistand der Holocaustleugnerin Ur-sula Haverbeck.

Auch im Sonderbar-Prozess sind die beiden Verteidiger in der Naziszene bekannt. Andreas Schoemaker, Verteidiger von Felix H., trägt einen gut sichtbaren Schmiss auf der Wange und hat Andreas Kalbitz im Parteiausschlussverfahren vertreten. Auch der Anwalt von Robert K., André Picker, verteidigt neonazistische Gewalttäter und Kameradschaften oder gibt Seminare für die Freien Nationalisten München. Picker war auch Mitglied der Republikaner und von Pro NRW.

Vom Sinn kritischer Prozessbegleitung

Beide Prozesse zeigen, was Antifaschist*innen bereits wissen: dass Neonazigewalt ein Problem darstellt, das von der Justiz nur unzureichend behandelt wird. So hat die Polizei im Fretterode-Prozess nicht nur unzureichend ermittelt, sondern es dauerte auch über drei Jahre (!) bis zum Prozessbeginn. Und auch der Sonderbar-Prozess fand zweieinhalb Jahre nach der Tatnacht statt. Während im Sonderbar-Prozess sogar bei der Urteilsbegründung angesprochen wurde, dass auch die Länge des Verfahrens im Sinne der beiden Angeklagten ist, so ist beim Fretterode-Prozess ebenfalls davon auszugehen, dass dies den beiden Angeklagten durch einen Straferlass zugutekommen wird. Nicht zuletzt bietet die Verschleppung des Verfahrens eine gute Ausrede für die geladenen ZeugInnen aus dem Umfeld von Thorsten Heise, große Erinnerungslücken zu haben.

Im Fall des S-Bar-Prozesses lässt sich außerdem feststellen, dass die politische Dimension des Angriffs bei der Urteilsbegründung außer Acht gelassen wurde, obwohl die Nebenklagevertretung mehrfach versuchte, diesen Punkt einzubringen. Nicht nur Aussagen von Zeug*innen aus einer Bar, in der sich die Gruppe um H. und K. vorher aufgehalten hat, sprechen dafür. Auch anhand der Chronik rechter Vorfälle des ABAG lässt sich zeigen, dass die Gruppe in den Wochen und Monaten vor dem Vorfall im Stadtgebiet auffällig geworden ist. So steht derzeit ein weiteres Strafverfahren gegen Personen im Umfeld der Täter H. und K. aus. Bei der vorgeworfenen Tat aus homophoben Motiven wurden zwei Göttinger schwer verletzt. Auch eine Reihe von Bedrohungen gegenüber Besucher*innen links-alternativer Kneipen können der Gruppe in dem Zeitraum zugeordnet werden.