Erinnern heißt kämpfen heißt erinnern
Ein Reisebericht
Im Sommer 2019 waren wir Teil einer interkulturellen Jugendbegegnung in den französischen Voralpen. Alle Teilnehmenden verband das Interesse an der französischen Résistance, den Widerstandskämpfer*innen gegen den Nationalsozialismus und gegen die Kollaboration im Frankreich unter dem faschistischen Vichy-Regime. Im Folgenden schildern wir unsere Eindrücke und Gedanken zu der Jugendbegegnung, wobei wir diese rückblickend reflektieren.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema der französischen Résistance brachte uns nicht nur zu Orten des bewaffneten Kampfes im Vercors-
Gebirge und vor Gebäude in Grenoble, in denen Widerständler*innen, aber auch deutsche, französische und italienische FaschistInnen das damalige Zeitgeschehen geprägt haben, sondern auch zur Frage, wie daran erinnert wird. Das bedeutet ganz konkret: Wie sieht die französische Erinnerungslandschaft aus? Wie wird den Kämpfer*innen der Résistance gedacht?
Und letzten Endes läuft die Beschäftigung mit diesem großen Themenkomplex auf die Frage hinaus, was Erinnern für uns als Antifa-
schist*innen bedeutet und welche Konsequenzen wir aus dem Handeln der Résistance sowie all den anderen Widerstandsbewegungen im Kampf gegen den Faschismus ziehen. Dabei ist unsere Grundlage, dass Geschichte und auch das Erinnern menschengemacht sind, was bedeutet,
dass Erinnerung nicht einfach da ist, sondern Menschen sie selektiv konstruieren. So fällt auch Gedenken ganz unterschiedlich aus.
Im Spannungsfeld zwischen soldatischer Männlichkeit und Patriotismus
Am Anfang muss die kritische Betrachtung der historischen Umstände stehen, um überhaupt ein Verständnis für den Gegenstand zu entwickeln. Dafür sind wir mit Historiker*innen an bestimmte Orte im französischen Vercors-Gebirge und in Grenoble gereist, haben das Musée de la Résistance besucht und Fachliteratur sowie Berichte von Widerstandskämpfer*innen gelesen. Dabei ist uns aufgefallen, dass die bewaffneten Widerstandshandlungen zumeist mehr Raum als der alltägliche Widerstand – das Leben in den maquis, also untergetaucht in den Bergen, die verschiedenen Kommunikations- und Versorgungsaufgaben – in der kollektiven Erinnerung einnehmen. Auch die Rollen von Frauen in der Résistance werden kaum thematisiert, und zwar obwohl Frauen meist Aufgaben, die mit hohen Risiken und Strafen verbunden waren, übernahmen. Oft kodierten sie Nachrichten, gaben diese weiter und versteckten sowohl Widerstandskämpfer*innen und Jüd*innen als auch Waffen. Viele von ihnen wurden von deutschen Soldaten exekutiert oder ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Außerdem mussten Frauen harte Kämpfe ausfechten, um von den männlichen Genossen als Widerständlerinnen akzeptiert zu werden. Trotzdem haben einige Frauen auch in den maquis an dem bewaffneten Widerstand teilgenommen, oft zusätzlich zu ihren Einsätzen als Sanitäterinnen. Im kollektiven Bewusstsein wird jedoch das verbreitete Motiv des bewaffneten Widerstands deutlich mit Männlichkeit in Verbindung gebracht. Die Held*innen des französischen Widerstands werden also in der Regel als Helden, als Männer, dargestellt. Hinzu kommt, wie bei einer Gedenkzeremonie für die von den Nazis getöteten Widerstandskämpfer beim Pas de l‘Aiguille im Juli 1944, bei welcher wir anwesend waren, nicht selten eine beträchtliche Portion Patriotismus: Französische Flaggen, die Nationalhymne und viele offizielle Staatsvertreter*innen. Kein Wunder: Solche Gedenkfeiern werden in der Regel vom Verteidigungsministerium und seiner eigenen Kriegsveteranenorganisation (ONACVG, Office National des Anciens Combattants et Victimes de Guerre) veranstaltet. Ehemalige Berufssoldaten aus vergangenen Kriegen sind dementsprechend dabei, oft als Fahnenträger und seltener als Redner. Bei der Gedenkzeremonie für die Widerstandskämpfer des Pas de l‘Aiguille 2019 waren allerdings viele Familienangehörige anwesend, die die dortigen Ereignisse des 22. und 23. Juli 1944 geschildert haben. Dort hatten sich Widerstandskämpfer in einer Höhle verschanzt und wurden von den Nazis
zwei Tage lang unter Beschuss genommen. Dabei wurde die Höhle teilweise gesprengt. Insgesamt starben bei den Attacken neun Widerstandskämpfer. Einige konnten entkommen, indem sie nachts den steilen Abgrund Richtung Tal hinunterrannten und sich in den nächst gelegenen Dörfern versteckten. Im Gespräch mit den Angehörigen haben wir mehr über die sehr verschiedenen Beweggründe ihrer Vorfahren erfahren, sich der italienischen und deutschen Kriegsbesatzung zu widersetzen.
Pourquoi résister? Antifaschismus oder Vaterlandsliebe?
In der offiziellen französischen Erinnerungskultur wird das Gedenken an die Résistance hochgehalten. In Schulbüchern, Medien und bei Gedenkfeiern werden die Widerstandskämpfer*innen gleichsam wie die Mitglieder der gaullistischen Armee, die im Exil von Charles de Gaulle gegründeten Forces Françaises Libres („Freie Französische Streitkräfte“), geehrt und für die Befreiung Frankreichs gefeiert. Die offizielle Staatsdoktrin verkündet hiermit, dass die französische Armee im Exil gleichermaßen an dem Widerstand beteiligt gewesen sei, obwohl diese erst 1944 gemeinsam mit den Alliierten den bewaffneten Kampf in Frankreich unterstützten, während die Partisan*innen im Landesinneren die ganze Besatzungszeit über die Vergeltung der FaschistInnen fürchten mussten.
Damit wird der Mythos des widerständigen Frankreichs unterstützt, dessen Bevölkerung immer gemeinsam gegen die Besatzung gekämpft hätte. Die bis in weite Teile der Gesellschaft reichende Kollaboration wurde lange Zeit gesellschaftlich nicht aufgearbeitet und gar verleugnet. Diese Verdrängung ging zu großen Teilen einher mit antikommunistischer Propaganda, die die Bedeutung linksradikaler Partisan*innen für die Résistance schmälerte.
Die Kämpfer*innen der Résistance hatten unterschiedliche Hintergründe, ebenso vielfältig waren dann auch ihre Motive Widerstand zu leisten. Die Résistance vereinigte vor allem in späterer Zeit nicht nur antifaschistische und gewerkschaftliche Gruppen, sondern auch bürgerliche Widerständler*innen. Die Anfänge der Résistance gehen jedoch auf überzeugte Antifaschist*innen zurück, die sich nach der Besetzung durch Nazi-Deutschland und der Gründung der faschistischen Vichy-Republik
nicht wie andere Teile der Gesellschaft mit dieser neuen Situation abfinden wollten. Sehr früh gründeten die Kommunistische Partei Frankreichs sowie andere sozialistische und libertäre Organisationen verschiedene Widerstandsgruppen wie zum Beispiel die Francstireurs et Partisans („Freischärler und Partisanen“) und Libération („Befreiung“). Zugleich
bildeten linke Gewerkschaften konspirative Netzwerke und wehrten sich mit betrieblichen Aktionen bis hin zu Streiks und Sabotageaktionen gegen die Besatzungsmacht.
Doch nicht für alle Menschen im Widerstand stand der Kampf um eine (vom Faschismus) befreite Gesellschaft im Vordergrund: Einige Widerstandsgruppen wie die gaullistisch dominierte Armée Secrète („Geheimarmee“) kämpften hauptsächlich um die Rückeroberung der verlorenen Gebiete. Auch aus dem Militär wurde Widerstand geleistet, wobei viele ehemalige Soldaten sich erst nach der Besetzung der zone libre durch die Wehrmacht ab November 1942 im Widerstand engagiert haben. Nicht wenige von ihnen hatten zuvor das faschistische Vichy-Regime befürwortet. Daher sind ihre Widerstandshandlungen mit nationalistischen Positionen und der Suche nach Vergeltung in Verbindung zu bringen. Außerdem schlossen sich viele der Widerstandskämpfer*innen erst der Résistance an als sie selber oder Menschen in ihrem nahen Umfeld zum Service de Travail Obligatoire („Zwangsarbeit“) nach Deutschland verschleppt werden sollten. Die Repressionen und Sanktionen der Besatzungsmacht führten vor allem in den späten Kriegsjahren zu einer breiteren Beteiligung der Bevölkerung am Widerstand.
“So viele Fragen können wir nicht beantworten, aber wir werden nicht aufhören sie zu stellen.“
Vieles verstehen wir noch nicht oder können es nicht nachvollziehen, und einiges liegt unseren politischen Überzeugungen und Hoffnungen fern. Nichtsdestotrotz blicken wir mit Bewunderung und Respekt auf die Résistance, die so vielfältig war: Ob in den Städten, auf dem Land, im maquis, also dem Untergrund in den Bergen, oder außerhalb Frankreichs – das eigene Leben für die Freiheit aller aufs Spiel zu setzen, ist nicht selbstverständlich. Daraus ergeben sich weitere Fragen: Was heißt Gedenken für uns Antifaschist*innen heutzutage? Wie können wir uns auf die Kämpfe der Résistance und anderer Widerstandsbewegungen in all ihren Widersprüchlichkeiten beziehen?
Unserer Ansicht nach ist antifaschistische Erinnerungsarbeit auch immer eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Zukunft. Sie kann sich nicht nur auf die Vergangenheit beschränken. Wenn Geschichte konstruiert ist, heißt das auch, dass man sie machen muss: Es gilt, eine antifaschistische Geschichtsschreibung fortzusetzen, indem wir aktiv sind in all den Kämpfen, die sich der Faschisierung der Gesellschaft entgegenstellen. Es bedeutet aber auch, die Verklärung früherer antifaschistischer Kämpfe zu einer „Revolutionsromantik“ zu hinterfragen: Der Einsatz gegen den Faschismus ist weder heroisch noch romantisch, sondern gefährlich, traumatisierend oder gar tödlich. Umso mehr spüren wir auch gegenwärtig die Notwendigkeit, miteinander solidarisch zu leben und uns dementsprechend zu verhalten, was eine kontinuierliche kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun erfordert. Antifaschismus ist nach wie vor eine Überzeugung, nach der es zu handeln gilt und niemand anderes wird uns das abnehmen.
von Enrica Galle, Tante Ragou und Clément Riboud