„Wir sind erst dann wirklich erfolgreich, wenn wir diese Gesellschaft so verändert haben, dass wir frei von rassistischer Diskriminierung und kapitalistischer Ausbeutung sind.“
Im Januar 2022 führten Gina Bartali und Micky Caulfield ein Interview mit dem BIPoC-Kollektiv Göttingen.
ABAG: Stellt euch unseren Leser*innen doch einmal vor! Wer seid ihr und was macht ihr?
Wir sind das BIPoC-Kollektiv, das steht für Schwarze, Indigene Menschen und Menschen of Color. Für diese Menschen sind wir quasi eine Anlaufstelle. Wir setzen uns gegen Rassismus, Kapitalismus und Imperialismus ein und versuchen die Gesellschaft entsprechend zu verändern. Unser erster Schritt ist dabei, uns zusammenzuschließen und darin zu bestärken, dass wir die herrschenden Verhältnisse nicht einfach hinnehmen müssen. Erst dann können wir organisiert zusammen kämpfen. Das versuchen wir unter anderem durch Demos und Bildungsveranstaltungen.
Seit wann gibt es euch als politischen Zusammenhang?
Seit 2017 schon. Ursprünglich war die Gruppe gedacht als Empowerment-Space für politisierte BIPoCs, die aber eher in weiß-dominierten Strukturen organisiert waren und sich gegenseitig bestärken wollten. Daraus hat sich dann ein eigenständiges Kollektiv entwickelt, das auch so an die Öffentlichkeit tritt.
Welche Resonanz bekommt ihr auf eure Arbeit in Göttingen? Wie werdet ihr wahrgenommen?
Bei der Gründung wurden wir teilweise von anderen Gruppen belächelt. Mittlerweile hat sich das aber sehr verändert. Wenn es um Antirassismus geht oder darum, BIPoCs zu erreichen, dann werden wir als Akteur wahrgenommen, den man ansprechen kann. Wenn es zum Beispiel um Gedenkdemos geht, wird mittlerweile nachgefragt, ob wir schon etwas geplant haben oder noch Unterstützung brauchen. Oder wir werden gefragt, ob wir Workshops zu Rassismus/Antirassismus geben wollen. Wir würden sagen, da konnten wir uns schon als Akteur in Göttingen etablieren. Wir sind in der Lage, Diskurse mitzugestalten, Themen zu setzen und als Ansprechpersonen zu dienen. Nicht nur für weiß-dominierte Strukturen, sondern auch für BIPoCs, die eine Anlaufstelle brauchen – das ist mit der Zeit mehr geworden.
Würdet ihr das als Erfolg eurer Arbeit werten? Ist das etwas, was ihr euch auch vorgenommen hattet, als ihr euch für ein eigenes Kollektiv entschieden habt?
Ja auf jeden Fall. Wir würden zwar sagen, dass wir erst dann wirklich erfolgreich sind, wenn wir es geschafft haben, diese Gesellschaft so zu verändern, dass wir frei sind von rassistischer Diskriminierung, kapitalistischer Ausbeutung usw. aber natürlich sind uns diese kleinen Erfolge wichtig, weil die erst dazu führen, dass wir das schaffen können. Die kleinen Erfolge sind zum Beispiel die Momente, in denen wir es schaffen, uns mit anderen Gruppen und anderen Menschen zusammenzuschließen. Also Solidarisierungsmomente. Momente nach Demos, wenn Menschen auf uns zukommen und fragen, wie man uns erreichen oder mitmachen kann. Wenn Leute merken, sie müssen die Verhältnisse nicht länger hinnehmen, sondern können etwas dagegen tun.
Gedenkdemos spielen bei euch ja eine große Rolle. Welche Bedeutung hat Gedenken für euch?
Für uns ist Erinnern ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Und auch eine Art Platzhalter, um auf Kämpfe hinzuweisen. Es ist wichtig, dass Fälle wie Hanau oder der Mord an Oury Jalloh nicht in Vergessenheit geraten. Wir müssen uns daran erinnern, dass das System, in dem wir leben, solche Morde erzeugt. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Jedes Mal wieder daran zu erinnern, mobilisiert immer mehr Menschen und schafft Bewegungen, die ein wirklich nachhaltiges Echo erzeugen.
Gedenken nimmt deshalb auch einen so großen Anteil unserer Arbeit ein, weil wir mit gewissen Dingen konfrontiert werden und unsere Kämpfe einfach dort stattfinden müssen. Das zeigt zum Beispiel die Tat von Halle Ende Januar, als Nazis auf eine Moschee schossen. Da geht es bei uns um die bloße Existenz und das Überleben. Das sind Dinge, denen wir uns stellen müssen, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen uns ganz klar bewusst werden, dass es nicht ausreicht, wenn es eine Meldung in den Nachrichten über eine rechte Gewalttat gibt und das Thema dann wieder verschwindet. Vielmehr müssen wir auch andere Menschen zum Handeln bringen, die davon vielleicht auch nicht so betroffen sind.
Was macht gutes Gedenken und Erinnern für euch aus?
Was die Initiative Hanau zum Beispiel sehr gut macht, ist ihre kontinuierliche Arbeit: Nicht nur am Jahrestag wird erinnert, sondern immer wieder. Auch durch das Nennen der Namen der Personen, die ermordet wurden und nicht der Täter. Das war beim NSU noch ganz anders, da denkt man eher an die Täter. Das ist bei Hanau nicht so und ein Erfolg dieser Initiative. Das ist etwas, was man mitnehmen kann: Kontinuierliches Erinnern und das Verknüpfen mit konkreten Forderungen, die sich nicht nur auf den einen Fall beziehen, sondern darüber hinausgehen und Verknüpfungen herstellen zu anderen Fällen von rassistischen Morden. Ein Erinnern, das diese Fälle aufklärt und das aufdeckt, was für ein System hinter diesen Taten steckt, das aufzeigt, warum unsere Geschwister sterben mussten. Es ist wichtig, dass die Räume, die wir zum Erinnern schaffen, zum Handeln auffordern.
Wenn ihr nicht so viel Erinnerungsarbeit leisten müsstet, wie würde eure Arbeit dann aussehen?
Wir sind ja in einem System voller Gewalt. Rassismus ist auch eine Form von Gewalt. Im schlimmsten Fall führt er zu Mord. Aber es gibt auch andere Gewaltformen, zum Beispiel Alltagsrassismus und das ist auch einer der Gründe, aus denen wir uns zusammenfinden: Dagegen wollen wir kämpfen. Aber wir wollen auch ganz klar das Grundgerüst Kapitalismus bekämpfen. Denn es begünstigt rassistische Strukturen. Wir wollen an unsere Geschwister herantreten und ihnen sagen, dass wir das nicht länger hinnehmen müssen, sondern kämpfen können. Das BIPoC-Kollektiv ist die Antwort darauf, dass wir in einem rassistischen System leben. Und wir sagen diesem System den Kampf an.
Würden wir uns nicht immer wieder mit rassistischen Morden und Alltagsrassismus auseinandersetzen müssen, könnten wir vielleicht mehr an einer übergeordneten Ebene ansetzen. Aber wir werden immer wieder davon aufgehalten, dass wir unsere Geschwister bei Sachen, die sie im Alltag erleben, unterstützen müssen.
Ich glaube, wenn es das alles nicht gäbe, dann bräuchte es das BIPoC-Kollektiv vielleicht auch nicht.
Ihr bezieht euch viel auf Internationalismus. Was bedeutet das für eure politische Praxis?
Rassismus und Kapitalismus sind keine spezifisch deutschen Probleme, sondern globale Probleme, die man auch global angehen muss. Internationalismus bedeutet für uns das Zusammenführen von Kämpfen und Solidarität über nationale Grenzen hinweg. Er bedeutet für uns auch das Überwinden von Spaltungslinien, die immer wieder geschaffen werden, weil wir in unseren Kämpfen in Konkurrenz zueinander gestellt werden.
Dabei sieht man auch die Wichtigkeit einer Community. Weil eine Community nicht einfach schon da ist, eine Community müssen wir uns erarbeiten und müssen dafür kämpfen und uns jeden Tag organisieren und zusammenschließen. Denn die kapitalistische Produktionsweise versucht, Trennungslinien untereinander zu schaffen, auch unter uns BIPoCs und migrantischen Menschen
Seid ihr auch mit BIPoC-Kollektiven aus anderen Städten oder anderen Ländern vernetzt?
Wir sind mit einzelnen Migrantifa-Gruppen, die es in Deutschland mittlerweile gibt, vernetzt. Als internationalen Austausch würde ich unsere Bündnisarbeit mit dem Rojava-Solibündnis benennen. Letztes Jahr hatten wir auch einen Austausch mit den Zapatistas aus Mexiko. Aber das kann natürlich noch ausgebaut und verfestigt werden.
Wir führen ja eine Chronik rechter Vorfälle in der Region, damit können wir allerdings nur sehr manifeste Ausformungen rechter Ideologie erfassen. Was denkt ihr, kann eine solche Chronik leisten und wie schätzt ihr das Verhältnis und den Zusammenhang zwischen konkreten rechten Vorfällen, wie wir sie dokumentieren, und systematischeren und subtileren Formen von rassistischer Diskriminierung ein?
Diese Frage knüpft an eine vorherige Frage an. So eine Chronik ist extrem wichtig, denn sie leistet eine andere Form von Erinnerung. Sie kann aber nur ein Anfang sein und sollte dazu anregen, dass wir versuchen, Rassismus auf allen Ebenen zu bekämpfen. Offene Gewalt und subtilere Formen von Rassismus sind einfach nur zwei Formen derselben Medaille und deswegen müssen wir uns beides anschauen. Außerdem braucht es, glaube ich, auch einen neuen Gewaltbegriff: Wir leben in gewaltvollen Verhältnissen und wir müssen mehr darüber sprechen, was darunterfällt. Das Verständnis von Gewalt ist noch sehr einseitig und bezieht sich oft nur auf Formen offener, physischer Gewalt.
Viele Menschen vollziehen auch nicht den Transfer von Rassismus und Gewalt, sodass Rassismus nicht als eine Form von Gewalt verstanden wird.
Wie kann man eure Arbeit unterstützen?
Wenn wir unsere Arbeit als den Kampf für eine Überwindung der jetzigen Gesellschaft, die auf Gewalt basiert, verstehen, dann würden wir sagen, ihr könnt uns unterstützen, indem ihr euch diesem Kampf anschließt; ob in unserer Struktur oder einer anderen. Ein bisschen konkreter könnt ihr uns natürlich auch unterstützen, wenn ihr euch als BIPoCs oder migrantisch versteht, indem ihr zu uns kommt. Ihr könnt uns auch unterstützen, indem ihr zu unseren Demos kommt und gemeinsam mit uns deren Ausdruck stärkt oder auch, indem ihr Geld spendet. Denn wir wollen unabhängig von staatlichen Institutionen sein und bleiben.
Wollt ihr noch etwas Abschließendes sagen?
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Gesellschaft nicht einfach so hinnehmen, wie sie ist. Dass wir uns klar werden darüber, dass Gesellschaft veränderbar ist und dass wir uns dafür organisieren und uns gemeinsam zusammenschließen. Um zu kämpfen und die Gesellschaft zu einer besseren zu verändern.
Danke für das Interview!