Ein Jahr nach dem Angriff in Fretterode – Rechte Gewalt und ihre Folgen

Fotos eines der beiden Verfolger mit einem Schraubenschlüssel in der Hand, dass die beiden Journalisten aus ihrem Auto machen konnten | Foto: MM

Eineinhalb Jahre nach dem neonazistischen Angriff auf zwei Fotojournalisten im thüringischen Fretterode veranstalteten wir am 22. Oktober 2019 eine Podiumsdiskussion. Auf ihr sollten sowohl einer der Betroffenen zu Wort kommen als auch der Umgang mit rechter Gewalt in unserer Gesellschaft kritisch beleuchtet werden. Als Redner*innen luden wir einen der betroffenen Journalisten, Merlin Müller, die anwaltliche Vertretung einer der beiden Betroffenen, Sven Adam, sowie Kristin Harney von der Mobilen Beratung Nied-ersachsen (MBT-NDS) und Theresa Lauß von der Betroffenenberatungsstelle ezra aus Thüringen ein.

von Julia Wessner und Marco Schiesser

Der Angriff in Fretterode.

Zu Beginn der Veranstaltung schilderte Merlin Müller ausführlich seine Erlebnisse in Fretterode am 29. April 2018. Er berichtete, wie er mit einem Kollegen dorthin fuhr, um vor dem Anwesen von Thorsten Heise ein Neonazi-Treffen fotografisch zu dokumentieren. In Folge dessen kam es zu einer Verfolgungsjagd, bei der die beiden Journalisten mutmaßlich von zwei Neonazis aus dem unmittelbaren Umfeld Heises mit dem Auto verfolgt wurden. Geistesgegenwärtig gelang es Müller, einen der Verfolger zu fotografieren.
Die Jagd endete für die Journalisten in einem Straßengraben in Hohengandern, wo die Verfolger ihnen die Reifen zerstachen, die Autoscheiben zerstörten und mehrfach mit einem Schraubenschlüssel und einem Messer ins Innere des Autos schlugen. Dabei entwendeten sie nicht nur eine Kamera, sondern verletzten einen Journalisten mit dem Messer am Bein und trafen den anderen mit dem Schraubenschlüssel am Kopf, wodurch sein Stirnknochen brach. Der Bruch wurde im Krankenhaus in Heiligenstadt allerdings nicht erkannt und nur als einfache Platzwunde behandelt. Im Anschluss mussten beide drei Stunden auf den Kriminaldienst aus Nordhausen warten, bevor sie für zwei Stunden vernommen wurden.

In Fretterode wurde derweil das Fahrzeug beschlagnahmt und das Haus von Thorsten Heise durchsucht. An dieser Stelle berichtete der Rechtsanwalt Sven Adam, dass die Hausdurchsuchung nicht gerade ambitioniert durchgeführt wurde und die Polizei auf Heises Anweisung weiterhin versuchte, die journalistische Dokumentation zu unterbinden.

Im Fall Fretterode entschieden sich die Betroffenen für eine bedingte Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden und der Justiz. Sie stellten gemeinsam Wissen über die Täter zur Verfügung, um die Ermittlungen der Behörden voranzutreiben. Ebenso wurde die Öffentlichkeit als dritte Komponente miteinbezogen, um durch öffentlichen Druck die Erfolgschancen des Verfahrens zu vergrößern.

Thorsten Heise auf der Veranda seines Gutshauses in Fretterode. | Foto: Marian Ramaswamy

Beide Betroffene des Vorfalls in Fretterode trugen schwere Verletzungen davon, die schwerwiegende Langzeitschäden hätten mit sich bringen können. Erst zehn Monate später wurde gegen Nordulf H. und Gianluca B., die beiden mutmaßlichen Täter aus dem Umfeld des stellvertretenden NPD-Bundesvorsitzenden Thorsten Heise, Anklage erhoben, welche jedoch mit dem Vorwurf der Körperverletzung und eines schweren Raubes noch weit unter dem liegt, was Adam fordert. Er stellte fest, dass eine Person, die mehrmals unkontrolliert auf eine Person einsticht oder die einer anderen Person mit einem schweren Schraubenschlüssel auf den Kopf schlägt, den Tod der Journalisten mindestens in Kauf genommen habe. Adam berichtete, dass er dementsprechend versucht hatte, eine Änderung der Anklage hin zu einem versuchten Tötungsdelikt zu erwirken. Dadurch müsste das Verfahren prioritär behandelt werden und auch die Anordnung von Untersuchungshaft gegenüber den Angeklagten wäre möglich gewesen. Diesbezüglich zeigt die Staatsanwaltschaft jedoch bis heute großen Unwillen…


Stattdessen zog die zuständige Staatsanwaltschaft die Aussagen der Betroffenen in Zweifel, indem unter anderem die Echtheit des Bildmaterials vom Tathergang in Frage gestellt wurde – ein weiterer Schlag ins Gesicht der Betroffenen. Die Justiz scheint in diesem Fall eher mit der Behinderung als mit der Aufarbeitung rechter Gewalt aufzufallen. Anstatt, wie von Adam gefordert, die beiden Tatverdächtigen in Untersuchungshaft zunehmen, gehen beide bisher ohne Einschränkungen ihrem Leben nach. Einer der mutmaßlichen Täter macht eine Ausbildung in der Schweiz.

Das von den Angreifern zerstörte Auto der Jounalisten | Foto: Marian Ramaswamy

So ist der Ausgang des Verfahrens weiterhin offen. Es steht noch kein Termin zur Prozesseröffnung fest. Die hier geschehene rechte Gewalt wird nach wie vor nicht geahndet und die Täter können unbehelligt ihrem Leben nachgehen. Der Vorfall kann als negatives Musterbeispiel dafür dienen, mit welchen Schwierigkeiten, zusätzlich zur eigentlichen Tat, Betroffene rechter Gewalt konfrontiert werden, wobei hier darauf hinzuweisen ist, dass Müller – im Gegensatz zu Anderen – auf ein starkes soziales Umfeld und auf vorhandene juristische Kontakte zurückgreifen konnte. Eine gute rechtliche Unterstützung ermöglicht Betroffenen rechter Gewalt eine realistische Einschätzung über die mögliche Strafverfolgung gegenüber den TäterInnen und kann Druck auf die Ermittlungsbehörden aufbauen, bestimmte Ermittlungsstränge nicht zu unterschlagen. Gleichzeitig ermöglicht sie – im Falle einer Verurteilung – das Geltend machen von Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüchen.

Thorsten Heise (r.) und sein politischer Ziehsohn Gianluca B. (2. v. l.) auf dem Eichsfeldtag in Leinefelde | Foto: Nico Kuhn


Der Umgang mit rechter Gewalt

Der Ausgangspunkt der Diskussion war der beschriebene Vorfall in Fretterode, doch der erweiterte Fokus sollte auch auf den Folgen rechter Gewalt liegen. Theresa Lauß (ezra), Kristin Harney (MBT- NDS) und Sven Adam sprachen im weiteren Verlauf über den Umgang der Betroffenen mit ihren gemachten Erfahrungen, zugleich aber auch über das Verhalten von gesellschaftlichen Akteuren und den Umgang staatlicher Behörden mit rechter Gewalt. Harney betonte, dass nicht jede*r Betroffene sich gegenüber dem juristischen Aufwand inklusive der Konfrontationen mit den Justizbehörden gewappnet sieht. Auch Adam räumte eine Skepsis gegenüber der Staatsanwaltschaft bezüglich des Schutzes der persönlichen Daten (wie etwa Klarnamen und Adressen der Betroffenen) ein. Denn diese verhalte sich in Sachen Datenschutz immer wieder fahrlässig und unsensibel – obwohl es längst bekannt ist, dass extrem rechte Akteure solche Informationen durchaus für ihre Feindeslisten nutzen. Doch nicht nur der Schutz vor den Täter*innen kann ein Grund sein, warum keine Anzeige gestellt wird.

Lauß berichtet auch von Betroffenen, die sich staatlichen Stellen gegenüber aufgrund von öffentlichen Diffamierungen, rassistischen Erfahrungen oder der Bagatellisierung der Tat nicht sicher fühlen. Zudem möchten einige aufgrund ihrer sozialen Lage – beispielsweise wegen eines unsicheren Aufenthaltsstatus – keine möglichen Risiken eingehen. In einer solchen unsicheren Position stellen sich völlig andere Fragen: Gibt es einen Zugang zu kompetenten Anwält*innen? Welche Möglichkeiten der Finanzierung existieren? Auf welche Journalist*innen kann man zugehen? Wie erhalte ich Hilfe bei psychischen Problemen wie Angststörungen und Depressionen, die häufig nach rechten Angriffen auftreten? Lauß betonte hier die Wichtigkeit von möglichst offenen Zugängen zu Informationen, die gerade von denen bereitgestellt werden müssten, die sich in einer sozial besseren Lage befinden.


Genauso relevant für den Umgang mit rechter Gewalt ist es laut Lauß, wie sowohl das soziale Umfeld der Betroffenen als auch Polizei und Öffentlichkeit auf einen Angriff reagieren: Ob Verständnis und Aufklärungswille vorherrschen, oder ob der Vorfall bagatellisiert und eine Täter-Opfer-Umkehr à la „Warum hast du auch dieses T-Shirt angehabt?“ betrieben wird. “Oder in Form von Gegenanzeigen, die Opfern oft auf juristischer Ebene begegnen. Prozesse können so um Jahre in die Länge gezogen werden und das Taktieren der Täter wird auf eine Ebene mit den Ansprüchen und Sorgen der Opfer gestellt. Die Motive der Täter wiederum würden häufig nicht als die wahrgenommen, die sie sind. Ihre menschenverachtende, rassistische Einstellung wird zu selten klar benannt – stattdessen fallen zu oft Aussagen wie „jugendtypisches Verhalten“, etwa wenn Neonazis andere Jugendliche aufgrund ihres Aussehens zusammenschlagen, weil diese Buttons trugen, die den Neonazis nicht passten. Das Weltbild hinter diesem Verhalten wird oftmals bei Weitem nicht in seiner gefährlichen Tragweite erkannt. Dadurch entsteht laut Lauß in der extrem rechten Szene die Einschätzung, dass auf ihre massiven Gewalttaten in der Regel nur milde Urteile folgen.

Die Rolle gelebter Solidarität

Daran anschließend beschrieb Harney von der niedersächsichen MBT, wie mobile Beratungsstellen versuchen diesen Zuständen entgegenzuwirken. Unter anderem ermutigt sie in ihrer Unterstützungsarbeit aktiv all jene, die von rechter Gewalt betroffen sind, zugleich aber in gefestigten sozialen Verhältnissen leben, diesen Vorteil zu nutzen – für sich und für andere Betroffene: Solidarität zu leben, indem sie die Kämpfe anderer mittragen, die Missstände der Justiz und Polizei öffentlich thematisieren und andere Betroffene nicht alleine lassen. Diese Kämpfe könnten laut Harney weitaus effektiver geführt werden, wenn deutungs mächtige Akteure, wie Schulleiter*innen, Bürgermeister*innen oder angesehene Mitglieder regionaler Vereine und Institutionen ihre Positionen vor Ort nutzen würden, um problematische Entwicklungen zu benennen und Betroffenen rechter Gewalt eine zusätzliche Hoffnung auf Gerechtigkeit zu ermöglichen.Stattdessen fände gerade in ländlichen Gebieten häufig eine Diffamierung der Betroffenen bzw. Aktiver gegen Rechts statt. Harney beschrieb, wie sie als „Nestbeschmutzer*in“ delegitimiert werde, und man ihr die Solidarität verweigert. Zu einem Problem würden nicht die neonazistischen Umtriebe erklärt, sondern diejenigen, die diese benennen oder den Neonazis zum Opfer fallen.

Letztendlich verdeutlichte die Veranstaltung die akuten Schwachstellen im Umgang mit rechter Gewalt in unserer Gesellschaft. Nicht erst nach den Anschlägen von Halle und Hanau ist es an der Zeit, dass auch jenseits einiger – und leider weiterhin zu weniger – positiver Beispiele begriffen wird, dass Solidarität uns alle angeht. Wir müssen gemeinsam gegen faschistische, reaktionäre und rassistische Umtriebe, ob in Form von rechten Gewalttäter*innen oder rechten Brandstifter*innen, aktiv werden – unabhängig davon, wie direkt oder beiläufig wir betroffen sind. Denn auf lange Sicht wird die Extreme Rechte ohne Gegenwehr die Freiheit und Lebensqualität aller mit Füßen treten, wo sie nur kann.