von Damian Ott
Am 26. Oktober 2023 herrschte um 19.00 Uhr ein riesiger Andrang im Zentralen Hörsaalgebäude der Universität Göttingen. Im Foyer des Gebäudes bildeten sich lange Schlangen und Grüppchen. Insgesamt waren über 600 Interessierte gekommen um den vom AStA Göttingen und der Basisdemokratischen Linken (BL) organisierten Vortrag „Reise nach Germania“ von Leon Montero zu hören. Der Andrang war so groß, dass bei weitem nicht alle, in dem rund 480 Personen fassenden Hörsaal Platz fanden.
Über das Leben in einer Studentenverbindung
Der Referent gab an, selbst neun Monate in einer – nicht näher genannten – katholischen Studentenverbindung in Hannover gewohnt zu haben, um dort undercover über die Verbindungsszene zu recherchieren. Charismatisch und rhetorisch gewandt berichtete er über seine Erfahrungen als Mitglied einer Studentenverbindung. Damit ist die größte Stärke der Veranstaltung umrissen. Leon Montero hat es geschafft dem Publikum einen bildhaften Einblick in das Verbindungswesen zu geben. Die eingestreuten Anekdoten – nicht selten verbunden mit Witzen über das Korporationswesen – kamen beim Publikum sehr gut an. Leider schaffte er es nicht, seinen Anspruch einzulösen und eine „Catchy-Einführungskritik“1 am Verbindungswesen zu entwickeln. Er hat seine persönliche Perspektive nicht mit einer grundsätzlichen feministischen Kritik an studentischen Korporationen verbunden. Somit ist die größte Stärke des Vortrags auch seine größte Schwäche. Er nahm eine voyeuristische Perspektive ein, die das männerbündische Treiben nur unzureichend erfasste. Der Vortrag ließ sich in zwei Teile gliedern. Zunächst ging es um das Verbindungsleben und die damit einhergehenden Eigenheiten, wie das Trinken und das studentische Fechten und im zweiten Teil um diskriminierendes sowie extrem rechtes Verhalten innerhalb von Studentenverbindungen. In diesem Bericht liegt der Fokus auf dem ersten Teil, da bereits hier die Verbindungskritik ansetzen sollte.
Leon Montero war kein vollwertiges Mitglied einer Verbindung, sondern ein Fux, den man auch als Anwärter bezeichnen könnte. Der Referent bezeichnete das Fuxendasein als „Schnupperzeit“, wo man die „Verbindung kennenlerne könne“, um dann nach dieser Phase geburscht, also vollwertiges Mitglied zu werden. Füxe erkennt man zum Beispiel daran, dass ihr Band nur aus zwei Farben besteht und nicht, wie bei den Burschen, aus dreien. Trotzdem nehmen die Füxe bereits an vielen Veranstaltungen des Verbindungslebens teil. Leon Montero schilderte zum Beispiel das Bummeln, wo er mit seinen Verbandsbrüdern andere Verbindungen besuchte und sich mit ihnen gemeinsam betrank oder das Ritual des Bierjungen. Es handelt sich hierbei um eine Art Trinkduell. Fühlt sich ein Verbinder beleidigt, kann er Bierjunge! rufen, woraufhin der Herausgeforderte in der Regel mit Hängt! antwortet. Daraufhin müssen beide Parteien nach bestimmten Regeln und Trinksprüchen ein Bier exen. Dementsprechend hielt der Referent fest, dass auf Verbindungshäusern ein „passiver Trinkzwang“ herrsche und dass das Trinken die „Gemeinschaft“ zusammenhalte. Gleichzeitig schilderte er, dass Mitglieder seiner Verbindung, die alkoholfreies Bier tranken, beleidigt oder als „Schande der Verbindung bezeichnet“ wurden. Auch das Kneipen – das sind ritualisierte Feiern, nach festgelegten Hierarchien und Befehlen mit dazugehörenden Trinkritualen – beschreibt er. Diese können „auch ganz witzig sein“, aber man bekomme Bierstrafen, wenn man Fehler mache. Man müsse als Mitglied einer Verbindung „immer mithalten“, dies würde zum Teil einen regelrechten „Nötigungscharakter“ annehmen. Manche Mitglieder würden bei dem Druck „einknicken“. So zutreffend diese Beschreibungen sind, lässt sich daran (m)ein zentraler Kritikpunkt festmachen. Leon Montero fragte in diesem Zusammenhang völlig zu Recht, warum die Verbinder denn so viel saufen, um seine aufgeworfene Frage mit den Worten „Keine Ahnung“ beiseite zu wischen.
Doch genau das ist doch die eigentlich spannende Frage. Warum machen die das? Dass Verbindungsstudenten viel trinken, dürfte einem Großteil des Publikums – vielleicht nicht in dem Detailreichtum – grundsätzlich bekannt gewesen sein. Die Beobachtungen werden nicht eingeordnet, sondern bleiben reportagenartig. Der exzessive Alkoholkonsum ist nicht, wie Leon Montero dann nachschob, mit einer „fehlenden Awareness“ für diesen Bierkonsum zu erklären. Vielmehr ist das systematische Verletzen und Überschreiten von persönlichen Grenzen das erklärte Ziel, dieser Trinkkultur. Der erzieherische Sinn des Saufens, ist die totale Hierarchisierung und eine blinde Unterwerfung unter die sinnlos herrschende Ordnung.
Die Erziehung zum (r)echten Mann
In diesem Zusammenhang muss ich noch einmal auf die Fuxenzeit zurückkommen. Es ist eine Fehleinschätzung hier von einer „Schnupperzeit“ zu sprechen, so als würde es um ein gegenseitiges Kennenlernen gehen, wo beide Seiten gleichberechtigt entscheiden könnten, ob sie miteinander wohnen wollen. Denn auch hier geht es um ein hierarchisches Verhältnis: Die Verbindung erzieht sich ihre Füxe zu Mitgliedern ihres Lebensbundes heran. Erklärtes Ziel ist es, dass eine Studentenverbindung „eine Gemeinschaft mit hoher Ähnlichkeit ist und bleiben“ soll, wie Chiara Monti und Sonja Brasch in der Lotta geschrieben haben. Grundpfeiler dieser Gemeinschaft ist in den allermeisten Fällen der Männerbund – Frauen werden also nicht als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt – sowie die Selbstaufgabe individueller Interessen oder persönlicher Angewohnheiten zugunsten der Gemeinschaft. Dem Trinken kommt hier, zusammen mit dem studentischen Fechten, der Mensur, die wichtigste Rolle innerhalb der korporierten Erziehung zu. Erst diese Rituale schleifen den ‚geschlechtslosen‘ Fux zum Bursch und damit zum Mann. Mann sein kann aber nur der sein, der nicht schwach ist, der jedes Trinkduell annimmt, der nicht „einknickt“ und sich gar herausnimmt ein alkoholfreies Bier zu trinken. Es kann nur derjenige ein Mann sein, der auch im volltrunkenen Zustand versucht sich zu beherrschen und die Regeln der Kneipen einzuhalten. Das Pressen, also das Trinken bis zum Erbrechen und darüber hinaus, erfordert Härte gegen sich selbst und die Unterordnung persönlicher Grenzen zu Gunsten der Gemeinschaft. Auch der Referent selbst ordnete sich in diese ein. So sprach er im weiteren Verlauf des Vortrags über die politischen Ausrichtungen im Verbindungswesen. Ein Beispiel stellten seine ehemaligen Bundesbrüder dar, die SS-Runen in die hauseigene Whatsapp-Gruppe gestellt hatten. Auch wenn ihn dieser Umstand störte, sprach er es als Fux nicht auf dem Convent (sozusagen die Mitgliederversammlung) der Verbindung an.
Auch die Mensur, welche in Leon Monteros Vortrag eine kleinere Rolle einnahm, wurde nicht unter ihrem erzieherischem Aspekt vorgestellt. Stattdessen fokussierte er sich vor allem auf die als „Ehrduelle“ bezeichneten pro patria suiten. Dabei handelt es sich, ähnlich wie beim Bierjungen um eine – in diesem Fall verbotene Form – der Konfliktaustragung zwischen schlagenden Verbindungen. Die Mensuren sind in fakultativ2 und pflichtschlagenden Verbindungen aber ebenso unerlässlich für die korporierte Erziehung, wie das Trinken. Zentral ist es, auch hier Härte zu zeigen, trotz Angst nicht zurückzuweichen. Wettbewerb, Härte und Opferbereitschaft, das Nichtzulassen von Emotionen oder gar von homosexuellem Begehren, aber gleichzeitig auch das Erleben von Kameradschaft und Gemeinschaft zeigen sich in den Studentenverbindungen zwar besonders deutlich, aber die dort vertretenen Werte stellen lediglich eine Zuspitzung von Männlichkeitsidealen dar, die auch an alle anderen Cis-Männer innerhalb der Gesellschaft gestellt werden. Insofern kann eine feministische Kritik am Verbindungswesen aufzeigen, dass es sich nicht nur um antiquierte ‚Sauftrolle‘ handelt, sondern wie fließend die Übergänge in die übrige männerdominierte Gesellschaft sind.
Frauen kommen in dieser Welt nur in der extrem misogynen und sexualisierten Figur der Coloeurmatraze oder als Hausdame vor. Sie können kein Teil des Männerbundes werden. Stattdessen werden sie von den Verbindern objektifiziert und sind – wie Leon Montero detailliert dargestellt hat – von sexueller Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen betroffen. Mithilfe dieser Abwertung von Frauen und von „Weiblichkeit“ allgemein, kann ebenfalls erklärt werden, warum in Verbindungen überdurchschnittlich oft (extrem) rechtes Gedankengut anzutreffen ist. Die Sozialisation der Verbinder in einen – ihrer Ansicht nach – erlesenen Männerbund, der Frauen grundsätzlich vorenthalten ist, rechtfertigt ihre Vorrangstellung in einer Gesellschaft, die auf Härte und Konkurrenzdenken basiert. Mithilfe der Netzwerke der Alten Herren versuchen die studentischen Korporationen die, im Sinne des Lebensbundes erzogenen, Verbinder in wichtige gesellschaftliche Positionen zu hieven. Als Richter, Arzt, Unternehmer oder Politiker haben die Korporierten einen nicht unerheblichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen.
Leon Monteros „Reise nach Germania“ ist somit eine spannende Geschichte, an dessen Ende man Studentenverbindungen nicht besser versteht, aber bildhafte Einblicke in das Verbindungswesen erhält. Grundsätzlich kritisch ist außerdem sein Zugang zum Thema zu betrachten. Monteros Undercoverrecherche hat keine Erkenntnisse hervorgebracht, die nicht vorher schon bekannt gewesen wären.
Dementsprechend ist zu hoffen, dass in Zukunft an das (kritische) Interesse angeknüpft wird und wieder verstärkt eine Kritik am Verbindungswesen geübt wird, die sowohl den Antifeminismus der Bünde in den Blick nimmt als auch die Erziehung zum autoritären Männerideal.
Damian Ott
Zum Weiterlesen:
Sonja Brasch und Chiara Monti: Vom Keilgast zum Bursch. Die Fuxenzeit als politische Sozialisation in Studentenverbindungen. In: Lotta, Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, (Sonderausgabe Nr. 5) 2019, Online hier
Studentenverbindungen gestern und heute. Kritische Perspektiven auf Korporationen in Göttingen und Deutschland, hrsg. v. Fachschaftsrat der Philosophischen Fakultät (Hg.), Göttingen 2017, Online hier
1Sofern nicht anders gekennzeichnet handelt es sich um Zitate Leon Monteros.
2Fakultativ heißt soviel wie freiwillig. In fakultativ schlagenden Verbindungen lernen die Füxe ebenso wie in pflichtschlagenden Verbindungen das studentische Fechten, müssen aber nicht zwingend eine Mensur mit scharfen Klingen schlagen. Inwieweit Gruppendruck und Hierarchien das nicht doch zur quasi Pflicht machen, sei hier dahingestellt.